Hier noch ein wichtiger Nachtrag zur "Guten Morgen,
@niusde_ "-Sendung von heute (20.10.) Morgen! Es ging darin eingangs um die haltlose und lachhafte Behauptung des Bundesaußenministers (man ist ja beinahe versucht, vom "Bundesglobalzwerg" zu reden), türkische Gastarbeiter hätten nach dem Krieg Deutschland aufgebaut und das Wirtschaftswunder überhaupt erst ermöglicht. Daß dies natürlich Unsinn ist – türkische Gastarbeiter kamen erst lange, nachdem das Wirtschaftswunder längst im Gange war, in eine hochtourig funktionierende westdeutsche Industrielandschaft – brauche ich hier nicht nochmal zu erklären.
In der
@jreichelt-Sendung wurde der Akzent jedoch mehrmals dahin verschoben, die Türkei habe eine Versendung ihrer Gastarbeiter nach Deutschland hauptsächlich wegen der Überbevölkerung angestrebt. Dazu würde ich allerdings sagen:
(2) [heute umgekehrte Reihenfolge, 2 vor 1!]: Die Sache mit der Überbevölkerung dürfte auf eine Äußerung Helmut Schmidts zurückgehen, die allerdings erst 2011 öffentlich bekanntwurde. Er erinnerte sich daran, daß einmal ein türkischer Staatsmann (Schmidt sagte 2011, er erinnere sich nicht mehr, welcher) zu ihm gesagt habe, Deutschland müsse der Türkei ihren Menschenüberschuß abnehmen! Schmidt sprach noch mehrmals darüber, allerdings aus zeitlich großer Distanz; er habe sich über den Gedanken erschrocken und will sich auch gegen die Forderung verwahrt haben (vergl. Özlem Topçu/Bernd Ulrich, Zehn Millionen Türken: Die Furcht des Helmut Schmidt, in: DIE ZEIT, 20. Oktober 2011).
(1) Der ursprüngliche Plan, türkische Gastarbeiter in Deutschland aufzunehmen, ging – wie inzwischen bei Historikern anerkannt sein dürfte – nicht auf deutsche Stellen zurück und hatte auch nichts mit Überbevölkerung zu tun, sondern war ein "diplomatisches Tauschgeschäft". Auf Betreiben der USA wurden in der Türkei, die seit 1952 der NATO angehörte, und also nah zur Südflanke der Sowjetunion Jupiter-Atomraketen aufgestellt. Damit ging die Türkei natürlich ein geopolitisches Risiko ein, das kompensiert werden mußte; die Kompensationsleistung sollte durch die Bundesrepublik Deutschland (die sich eben auch für den atomaren Schutz durch die USA zu revanchieren hatte) erbracht werden und zwar durch Aufnahme und Ausbildung türkischer Industriearbeiter.
Dabei war ursprünglich vorgesehen, daß diese in der Tat nur in Deutschland industriell angelernt werden und dann in die Türkei zurückgeschickt werden sollten, um ihre neuerworbenen Fähigkeiten in der Heimat einzusetzen. Es zeigte sich aber rasch, daß (a) die westdeutschen Industrieunternehmen kein Interesse daran hatten, die (trotz sprachlicher Schwierigkeiten) ordentlich angelernten Arbeiter dann wieder zurückzuschicken und (b) die industrielle Entwicklung der Türkei noch längst nicht so weit war, daß die Männer ihre in der damals führenden Industrienation der Welt erworbenen Fähigkeiten irgendwo hätten einsetzen können. Also verstetigte sich ihr Aufenthalt, und die Zahl der Türken in Deutschland stieg infolge der Familienzusammenführung über viele Generationen hinweg (Kinder wurden mit Partnern aus dem Heimatdorf verheiratet, diese dann nachgeholt) ständig an.
(Übrigens: die in der Türkei stationierten Jupiter-Raketen waren der Anlaß für den Plan der Sowjetunion, ihrerseits Atomraketen auf Kuba aufzustellen, was die Kuba-Krise auslöste und die Welt an den Rand eines Atomkriegs führte. Die Kuba-Krise wurde – was die Öffentlichkeit damals nicht erfuhr! – durch die Zusicherung Kennedys gelöst, daß die Jupiter-Raketen in der Türkei wieder abgebaut würden, wenn die Sowjetunion auf die Raketenstationierung auf Kuba verzichte. So kam es, ein halbes Jahr nach der Kuba-Krise wurden die Raketen aus der Türkei abgezogen. So besehen, hätte man sich die Aufnahme türkischer Gastarbeiter also beinahe sparen können...🧐).
Als Standardwerk hierzu gilt: Heike Knorz, Diplomatische Tauschgeschäfte (2008).